Mehrfachbelastungen für Wissenschaftler*innen mit Care-Verpflichtungen dürfen nicht ignoriert werden!
Kritische Stellungnahme zur Änderung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) aufgrund der Covid-19-Pandemie vom 22.04.2020
Die Mehrheit des wissenschaftlichen und künstlerischen Personals befindet sich in befristeten Beschäftigungsverhältnissen und übernimmt dabei einen großen Teil der wissenschaftlichen Kernaktivitäten in Forschung und Lehre an den Hochschulen und Forschungseinrichtungen. Durch die pandemiebedingten Maßnahmen werden sie in ihren Tätigkeiten derzeit massiv eingeschränkt und stark belastet.
Dies hat auch die Bundesregierung erkannt und versucht nun, mit der Änderung des WissZeitVG vom 22.04.2020 den pandemiebedingten, negativen Effekten auf die Wissenschaft entgegenzuwirken. Dieses Gesetz sieht vor, dass Hochschulen und Forschungseinrichtungen als Arbeitgeber die Möglichkeit haben, die zulässige Befristungsdauer von wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeiter*innen um höchstens weitere sechs Monate zu verlängern.
Allerdings handelt es sich um eine Kann-Regelung. Wir schließen uns der Forderung der GEW an, dass es dringend eines Rechtsanspruchs bedarf, so dass die Betroffenen nicht vom Ermessen der Personalabteilung der Hochschule oder Forschungseinrichtung abhängen.
Inakzeptabel ist zudem, dass in der aktuellen Gesetzesänderung die zusätzlichen Mehrbelastungen und Einschränkungen von wissenschaftlichem und künstlerischem Personal mit Betreuungs-, Erziehungs- und Sorgeaufgaben grundlegend unberücksichtigt gelassen wurden!
Wissenschaftliche und künstlerische Mitarbeiter*innen mit Care-Tätigkeiten müssen im Homeoffice nicht nur ihre Arbeit (neu) organisieren, sondern gleichzeitig betreuen, erziehen, beschulen und pflegen. Dies führt zu einer gesteigerten Prekarisierung der Arbeitsbedingungen dieses Teils der Beschäftigten in befristeten Arbeitsverhältnissen.
Dabei unterscheiden sich die Problemlagen der Betroffenen im Hinblick auf ihre spezifische Familienkonstellation (Homeschooling schulpflichtiger Kinder, permanente Betreuung von Kindern im Vorschulalter, Pflege Angehöriger), treffen allerdings nahezu alle mit ähnlicher Härte. Zeit, Ruhe und Konzentration sind entscheidend für das Denken, Forschen und (digitale) Lehren. Wenn Seminareinheiten z.B. als Podcast aufgezeichnet werden, ist eine Minimierung von Hintergrundgeräuschen unabdingbar, was mit einer gleichzeitigen Betreuung und Versorgung der Kinder und Angehörigen nicht möglich ist. Die Zeit zwischen Sonnenuntergang und Tagesanbruch wird so zur einzigen Arbeitsmöglichkeit. Als eine weitere Einschränkung zeigt sich, dass Betroffene nicht zu jeder Tageszeit an Video- und Onlinekonferenzen teilnehmen können, ohne dass die eigenen Kinder im Hintergrund mit anwesend sind. Nicht vergessen werden darf, dass Eltern auch in der Verantwortung für die in erheblichen Umfang anfallenden technischen Aspekte des Homeschoolings (Apps installieren, mit den Lehrkräften kommunizieren, Hausaufgaben einscannen etc.) gesehen werden. Zudem steht vor dem Hintergrund der Lehr- und Care-Verpflichtungen die konzentrierte Fortführung der eigenen Forschungsprojekte gezwungenermaßen hinten an. Wissenschaftliche und künstlerische Mitarbeiter*innen mit Care-Verpflichtungen stehen vor einer kurzfristigen Umstrukturierung ihrer Pflege- und Arbeitszeiten, die sich langfristig auf ihre Karriere auswirken wird.
Auch ohne pandemiebedingte Einschränkungen bestehen für diese Gruppe von Menschen Arbeitseinschränkungen und Ungleichheiten, die durch die Pandemie und ihre Folgen potenziert werden. Für die Betroffenen bedeutet das für die Zeit nach der Krise, in der sich die Care-Tätigkeiten nicht auflösen, sondern nur in das übliche Maß zurückkehren, dass sie in ihrer wissenschaftlichen Arbeit und Berufskarriere nicht nur mehr Rückstände aufweisen, sondern auch gegenüber ihren Kolleg*innen längere Zeit brauchen werden, um die Krisenzeit aufzuholen. Das erscheint umso fataler in Hinblick auf die akademische Karriere, bei der der berufliche Aufstieg und Verbleib im Wissenschafts- und Hochschulsystem von der Anzahl und Qualität der wissenschaftlichen Veröffentlichungen und den eingeworbenen Drittmitteln abhängt. Auf diese Weise verliert das Wissenschafts- und Hochschulsystem seit Jahren Personen, deren akademische Karriere nicht aus Leistungsgründen endet, sondern weil sich ihre beruflichen und Care-Tätigkeiten nicht miteinander vereinbaren lassen, wie etwa der Ausstieg vieler Frauen aus dem Wissenschaftsbetrieb nach der Promotion zeigt.
Wir fordern daher den Gesetzgeber auf, die in Folge der Covid-19-Pandemie beschlossenen Änderungen des WissZeitVG nachzubessern und um eine familienpolitische Komponente zu erweitern, wie sie ja auch bislang für die Betreuung von Kindern unter 18 Jahren oder sonstiger pflegebedürftiger Angehöriger gewährt worden ist (WissZeitVG §2 (1) i.d. F. vom 23.05.2017).
Konkret fordern wir:
- die im Artikel 1 der Änderung des WissZeitVG vom 22.04.2020 formulierte Verlängerung der Arbeitsverträge von wissenschaftlichem und künstlerischem Personal um höchstens 6 Monate als Rechtsanspruch in voller Länge allen zu gewähren,
- für diejenigen mit Care-Verpflichtungen zu verdoppeln (d.h. die im neuen Gesetz festgelegten 6 Monate um weitere 6 Monate zu verlängern),
- diese familienpolitische Komponente generell als Rechtsanspruch im neuen WissZeitVG zu verankern und,
- die familienpolitische Komponente auf betroffenes wissenschaftliches und künstlerisches Personal in anderen Beschäftigungskontexten (drittmittelfinanzierte Projektmitarbeiter*innen, Stipendiat*innen, Juniorprofessor*innen etc.) auszuweiten.
Mit unserem offenen Brief rufen wir Sie dazu auf, unser Anliegen zu teilen und öffentlich eine familiengerechte Wissenschaftspolitik einzufordern.
Wir appellieren an alle politischen Entscheidungsinstanzen, das geänderte WissZeitVG nachzubessern, um die Mehrbelastung und daraus sich ergebende langfristige und strukturelle Benachteiligung von Wissenschaftler*innen mit Care-Verpflichtungen im Blick zu halten und zu berücksichtigen.
Die Initiator*innen
Dr.in Ulrike Deppe, MLU Halle-Wittenberg
Dr.in Nora Friederike Hoffmann, MLU Halle-Wittenberg
Dr.in Edina Schneider, MLU Halle-Wittenberg
Dr. Roland Bloch, MLU Halle-Wittenberg
Prof.in Dr.in Sina-Mareen Köhler, RWTH Aachen
Bitte beteiligen Sie sich an unserer Petition:
Bisher haben 3253 Personen unterschrieben.
Unterschriftenliste
Bisher haben folgende Personen unterschrieben:
3,253
Frau Giovanna Gilges
3,252
Frau Franziska Hoven
3,251
Frau Julia Witsch
Philipps-Universität Marburg
3,250
Herr Jörn Oeder
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte
3,249
Frau Manon Gumpert
3,248
Frau Thanh Lan Truong
Universität Tübingen
3,247
Frau Madeleine Böhm
Universität Erfurt
3,246
Dr. Christian Merz
Ruhr-Universität Bochum
3,245
Frau Antje Harms
Universität Freiburg
3,244
Frau Julia Braun
Eberhard Karls Universität Tübingen
3,243
Dr. Oliver Bott
Universität Bielefeld
3,242
Frau Larissa Specht
Universität Tübingen
3,241
Herr Alvaro Cortes Rodriguez
Universität Tübingen, SFB833
3,240
Frau Anna Pryslopska
Universität Tübingen
3,239
Frau Valerie Palmowski
Universität Tübingen
3,238
Herr Hendrik Hess
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
3,237
Herr David Sabel
Universität Bonn
3,236
Frau Jasmin Leuchtenberg
Universität Bonn
3,235
Frau Sonja Engel
TU Dresden
3,234
Dr. Diana Ordubadi
Universität Bonn
3,233
Frau Lena Ringen
Uni Bonn
3,232
Frau Christine Beyer
Rheinische-Friedrich-Wilhelms Universität Bonn
3,231
Frau Katharina Gahbler
Uni Bonn
3,230
Dr. Linda Dohmen
Uni Bonn
3,229
Frau Beryl Büma
Universität Bonn
3,228
Herr Philipp Buchallik
TU Dresden
3,227
Dr. Felix Prautzsch
TU Dresden
3,226
Dr. Lea Hagedorn
TU Dresden
3,225
Dr. Filipp Schmidt
Universität Gießen
3,224
Dr. Annette Spiekermann
TU München
3,223
Frau Linda Kalski
Institut für Sportwissenschaft
3,222
Frau Cordelia Arndt-Sullivan
FU Berlin
3,221
Frau Jana Salcedo Strausfeld
Lateinamerikainstitut
3,220
Frau Verena Schulze
FU Berlin
3,219
Frau Clara Hoffmann
Humboldt Universität
3,218
Frau Katja Weimer
FU Berlin
3,217
Dr. Débora Medeiros
FU Berlin
3,216
Frau Alena van Bömmel
Max-Planck-Institut f. molekulare Genetik
3,215
Frau Bettina Junkes
Freie Universität Berlim
3,214
Frau Süheyla Kiyak
3,213
Herr Ferry Saavedra Karnani
3,212
Herr Jonathan Kliem
Freie Universität Berlin
3,211
Herr Niclas Bornschein
Freie Universität Berlin
3,210
Frau Giordana Tornow
Freie Universität Berlin
3,209
Frau Friederike Hellwig
Freie Universität Berlin
3,208
Frau Jennifer Dabor
3,207
Herr Max Bromberg
FU Berlin
3,206
Herr Maxim Breitkreiz
Freie Universität Berlin
3,205
Herr christian haase
fu berlin
3,204
Frau Maria Hastermann
Charite Universitätsmedizin Berlin
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